Nahrungstabu
Als Nahrungstabu wird das Phänomen bezeichnet, dass bestimmte Tiere oder Pflanzen, die prinzipiell essbar sind, von einer bestimmbaren sozialen Gruppe oder in einem Kulturkreis bewusst nicht verzehrt werden und als nicht essbar gelten. Es gibt kein Nahrungstabu, das universelle Gültigkeit besitzt. Viele dieser Tabus sind nicht schriftlich fixiert, werden jedoch im jeweiligen Gültigkeitsbereich dennoch als bindend aufgefasst und beachtet. Da Genussmittel nicht zu den Nahrungsmitteln gezählt werden, wird zum Beispiel das Alkoholverbot im Islam wissenschaftlich nicht als Nahrungstabu aufgefasst.
Mit der Erforschung von Nahrungsverboten beschäftigen sich mehrere Wissenschaften, vor allem Anthropologie, Ethnologie, Ernährungssoziologie und Nahrungsforschung.
Einführung
Die meisten Wissenschaftler vertreten die Auffassung, dass der Mensch prinzipiell ein Allesfresser (Omnivore) ist, also sowohl tierische als auch pflanzliche Nahrung aufnehmen und verdauen kann. Dennoch wird in allen bekannten Kulturen eine Nahrungsauswahl getroffen, so dass unterschieden wird zwischen bevorzugten, weniger bevorzugten, zu meidenden und verbotenen Nahrungsmitteln. Nur die strikte Meidung unverdaulicher und giftiger Substanzen ist physiologisch begründbar. Alle anderen Nahrungsverbote und -meidungen gelten als sozio-kulturell erworben und differieren in verschiedenen Kulturen, Nationen oder Gruppen. Die menschliche Nahrungsauswahl wird im Unterschied zu der bei Tieren nicht durch den Instinkt gesteuert. Studien haben ergeben, dass Kleinkinder bis zum Alter von etwa zwei Jahren noch grundsätzlich bereit sind, alles in den Mund zu stecken und zu essen, also auch Steine, Käfer oder Kot. Ekelgefühle werden sozial erworben und auf Grund des Verhaltens der Umwelt erlernt, sind also nicht angeboren. Im Tierreich wurden noch nie wirkliche Ekelreaktionen beobachtet. [1]
Auch verbotene Nahrungsmittel werden oft mit einem Gefühl des Ekels assoziiert. Da dasselbe Nahrungsmittel, das in einem Kulturkreis entschieden als nicht essbar angesehen wird, in einem anderen als Delikatesse gelten kann, zum Beispiel Hundefleisch, kann diese Reaktion nicht als Instinkt interpretiert werden; sie steht offenkundig nicht in Zusammenhang mit den Eigenschaften des prinzipiell essbaren Objekts. Die Fähigkeit, in Notsituationen wie einer Hungersnot Ekelreaktionen unterdrücken zu können und etwas Tabuisiertes zu essen, ist individuell unterschiedlich. Im Regelfall löst starker Widerwille beim Essen einen Brechreiz aus, der eine Nahrungsaufnahme unmöglich macht.[2]
Der überwiegende Teil der weltweit bekannten Nahrungstabus bezieht sich auf Fleisch und tierische Produkte, nur ein kleiner Teil auf Pflanzen. Daniel Fessler und Carlos David Navarrete fanden in zwölf untersuchten Kulturräumen insgesamt 38 Fleischtabus, aber nur sieben Pflanzentabus.[3]
Weltweit gelten die Chinesen als das Volk mit den wenigsten Nahrungstabus, in Mitteleuropa die Franzosen. Anhand historischer Quellen lässt sich belegen, dass die Zahl der Nahrungstabus in Europa in der Neuzeit deutlich zugenommen hat.
Erklärungsmodelle
Es gibt mehrere Ansätze, um die Entstehung und Aufrechterhaltung von Nahrungstabus zu erklären. Die bekanntesten sind:
- der kulturmaterialistische oder ökonomisch-rationalistische Ansatz. Der bekannteste Vertreter ist der amerikanische Anthropologe Marvin Harris (Good to eat. Riddles of Food and Culture, 1985). Dieser Ansatz geht davon aus, dass Nahrungstabus immer rational begründbar sind und Folge einer Kosten-Nutzen-Analyse im Hinblick auf effiziente Nahrungsversorgung. Das ist die „Theorie der optimalen Futtersuche“. Jede Kultur und jede soziale Gruppe entwickelt demnach Ernährungsgewohnheiten, die auf Grund der regionalen Gegebenheiten ökologisch und ökonomisch sinnvoll sind und den höchsten Nutzen versprechen. So weist Harris nach, dass die Kühe in Indien lebend sehr wertvoll sind bzw. waren, so dass es unklug wäre, sie zu schlachten und zu verspeisen; aus dieser Einsicht heraus entstand nach dieser Argumentation das Tabu der Heiligen Kühe.
- der sozio-kulturelle oder funktionalistische Ansatz. Die Vertreter dieses Modells gehen davon aus, dass Tabus in erster Linie der Stärkung der Gruppenidentität und der Abgrenzung von anderen Gruppen dienen. Die Nahrungstabus stehen somit im Dienst einer sozialen Ordnung. Tabuisiert werden gezielt solche Speisen und Lebensmittel, die von den Gruppen gegessen werden, von denen eine Abgrenzung angestrebt wird. Ein bekannter Vertreter ist Frederick J. Simoons (Eat not this Flesh. Food avoidances in the Old World, 1967). Dieser Ansatz kann in der Regel jedoch nicht erklären, warum gerade ein bestimmtes Nahrungsmittel tabuisiert wird, nicht irgendein anderes. Die Bedeutung der jeweiligen Nahrung wird nicht weiter hinterfragt.[4]
- der strukturalistische Ansatz, der vor allem von Mary Douglas (Purity and Danger, 1966), Claude Lévi-Strauss und in Deutschland von Ulrich Tolksdorf vertreten wird. Nahrungsmittel werden bei diesem Erklärungsmodell als Symbole angesehen, die dabei helfen sollen, eine gewisse gedachte Ordnung in die Umwelt zu bringen. Jede Kultur trennt daher nicht nur Nahrung in rein und unrein, heilig und profan. Reine Nahrung gilt als essbar, unreine als nicht essbar. Für die Klassifikation werden bestimmte Kriterien gebildet. Abgelehnt werden von manchen sozialen Gruppen die Tiere, die in keine Kategorie hineinpassen.
- Ein abgewandeltes strukturalistisches Ernährungsmodell hat der Ethnosoziologe Edmund Leach eingeführt (Kultur und Kommunikation, 1974). Nicht essbar sind danach in der Regel Tiere, die entweder als zu fremd oder zu verwandt eingestuft werden, in Mitteleuropa also Raubtiere oder Insekten, aber auch Affen oder Hunde. Leach hat die Essbarkeit von Tieren in Beziehung gesetzt zu Regeln für eheliche Verbindungen. Ist die Beziehung zum „Objekt“ sehr nahe, dann gilt das Inzesttabu und ein Heiratsverbot, entsprechend sind Schoßtiere nicht essbar. Nähere Verwandtschaft bzw. räumliche Nähe bedeuten die Missbilligung einer Heirat, aber die Erlaubnis zu sexuellen Kontakten; entsprechend seien Haustiere (Nutztiere) als Jungtiere essbar. Nicht verwandt, aber auch nicht sehr fern entsprechen der Heiratserlaubnis und der Essbarkeit von Wildtieren. „Sehr fern“ schließt engere soziale Kontakte bei Menschen aus und die Essbarkeit von Tieren, die als „zu wild“ oder „zu fremd“ abgelehnt werden.
- der emotionspsychologische Ansatz, vertreten von Fessler/Navarrete (Meat is good to taboo, siehe Weblinks). Diese Forscher gehen davon aus, dass Emotionen die Basis von Nahrungstabus sind und argumentieren damit, dass das Gefühl des Ekels sich im Laufe der Evolution herausgebildet habe, um die Nahrungsauswahl zu erleichtern und das Risiko, an „falscher Nahrung“ zu sterben, zu minimieren. Dieses Risiko sei bei Fleisch größer als bei Pflanzen. Diese Ekelgefühle seien durch Übelkeit und Erbrechen nach Verzehr des Falschen gewissermaßen im Gehirn verankert worden. Andere Begründungen für Nahrungstabus seien rationalisierte Begründungen, die erst später eingeführt worden seien. Dieser Ansatz ist angreifbar, denn es scheint durch Studien erwiesen, dass Ekel nicht angeboren und daher kein Instinkt ist; angeboren sind lediglich gewisse Geschmackspräferenzen.
Alle Ansätze haben den Nachteil, dass sie nicht alle bekannten Nahrungstabus zufriedenstellend erklären können. Eva Barlösius: „Es ist höchst unwahrscheinlich, daß so unterschiedlichen Phänomenen wie dem Tötungsverbot von Rindern in Indien, der Ablehnung von Pferdefleisch in Nordeuropa, dem Widerwillen gegen Hunde- und Katzenfleisch in Europa und Nordamerika und dem mosaischen und islamischen Schweinefleischtabu jeweils das gleiche verursachende Prinzip zugrundeliegt.“[5]
Religiös begründete Nahrungstabus
Heilige Kühe
Eines der bekanntesten Nahrungstabus ist das religiös begründete Verbot für die Hindus in Indien, Rinder zu schlachten und zu essen. Vor allem die milchgebenden Kühe gelten als heilig und unantastbar. Schon in alten Hinduschriften, den Veden, hat die Kuh göttlichen Status. Außerdem ist Krishna, der als Inkarnation des Gottes Vishnu gilt, der hinduistischen Überlieferung zufolge nach seiner Geburt in der Familie eines Kuhhirten aufgewachsen und wird auf Abbildungen häufig auch selbst als Hirte mit einer Kuh dargestellt. Ein Stier namens Nandi ist das Begleittier des Gottes Shiva. Nach der hinduistischen Reinkarnationslehre ist eine Wiedergeburt als Kuh die Stufe direkt unterhalb der als Mensch. Wer eine Kuh tötet, dessen Seele sinke wieder auf die unterste von 87 Stufen zurück. In jeder Kuh kann nach hinduistischem Glauben die Seele eines Gottes leben. Auch die Kuhmilch und alle Ausscheidungen von Kühen gelten als heilig.[6]
Alle indischen Bundesstaaten außer Kerala und Westbengalen haben spezielle Gesetze zum Schutz der Heiligen Kühe. Von Mahatma Gandhi ist der Ausspruch überliefert: „Der Schutz des Rindes ist das Geschenk des Hinduismus an die Welt […] Der Hinduismus wird solange bestehen, wie es Hindus gibt, die das Rind beschützen.“[7]
Die Rinderverehrung unter Hindus ist jedoch durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt. Während Kühe im nördlichen Uttar Pradesh quasi wie ein Familienmitglied an Mahlzeiten teilnehmen, verzichtet man im südlichen Kerala lediglich auf das Schlachten und verkauft alte Tiere an christliche oder muslimische Metzger; Rindfleisch wird dort auch gegessen. Und von den 450 unteren Kasten, die es offiziell in Indien gibt, ist 117 bekanntermaßen der Verzehr von Rindfleisch erlaubt.[8] Aus finanziellen Gründen kommt für sie nur Aas in Frage. Für die Mehrheit der indischen Hindus ist Rindfleisch jedoch tabu; altersschwache Kühe werden in speziellen Tierheimen untergebracht und erhalten dort das Gnadenbrot. Laut Marvin Harris gab es in den 1980er-Jahren in Indien rund 3000 solcher „Altersheime“ für Kühe, in denen etwa 580.000 Tiere lebten. Die meisten davon gehörten Anhängern des Jainismus.[9]
Die offizielle Auffassung des Hinduismus besagt, dass die Inder auch in alter Zeit bereits die Rinder verehrt und nicht geschlachtet haben, der Rindfleischverzehr sei erst mit den Muslimen im Land verbreitet worden. Diese Meinung lässt sich jedoch anhand von Quellen widerlegen, wie u. a. Harris nachgewiesen hat. Von 1800 bis 800 vor unserer Zeitrechnung lebten die indoarischen Träger der vedischen Kultur in Nordindien, ein Nomadenvolk, das den Quellen zufolge Rinder sowohl aß als auch als Teil religiöser Rituale opferte. Die Opfertiere wurden nach der Tötung unter den Gefolgsleuten der Priester und Krieger aufgeteilt. Bei den Veda gab es bereits vier Kasten: die Priesterkaste der Brahmanen, eine Kriegerkaste, eine Bauern- und Handwerkerkaste und eine Knechtkaste. Als die Bevölkerung wuchs, wurde zunehmend mehr Ackerland gebraucht, so dass es weniger Weideland gab und damit auch weniger Rinder. So aßen bald nur noch die privilegierten Kasten das begehrte Fleisch. Um 600 vor unserer Zeitrechnung kam es durch Kriege und Überschwemmungen zu Hungersnöten, und zu dieser Zeit entstand der Buddhismus als konkurrierende Religion. Er verurteilte Tieropfer und das Schlachten von Tieren generell.[10]
Das Ergebnis dieses „Konkurrenzkampfs“ in Indien führte laut Harris zur Entstehung des Nahrungstabus im Zusammenhang mit den Rindern: „Neunhundert Jahre lang kämpften Buddhismus und Hinduismus um die Mägen und Köpfe der indischen Bevölkerung. Am Ende konnte der Hinduismus den Kampf für sich entscheiden, aber erst, nachdem die Brahmanen sich von der Tieropferfixierung des Rigweda gelöst, das Tötungsverbot […] als Prinzip übernommen und sich selbst als Beschützer des Rindes statt als sein Vernichter etabliert hatten. […] Statt Fleisch wurde jetzt Milch zur wichtigsten rituellen Nahrung im Hinduismus […]“.[11]
Wären die Rinder mit einem negativen Tabu belegt worden, hätte das das Aus für die Rinderzucht bedeutet, denn „unreine“ Tiere werden von Gläubigen nicht gehalten. Die Rinder spielten und spielen jedoch auch heute noch für die Ackerbau treibende Bevölkerung in Indien eine wichtige Rolle und sind unverzichtbar, denn sie dienen als Zugtiere auf dem Feld, liefern Milch, und der Kuhdung wird sowohl als Dünger als auch als Heizmaterial gebraucht. Außerdem sichert der Besitz auch nur einer einzigen Kuh vielen Kleinbauern überhaupt ihren Status als Besitzer eines winzigen Stück Landes. Das ist nach der Argumentation von Harris der Grund für die Ausbildung des Tabus der Heiligen Kühe. Das eigentliche Motiv habe mit der Religion nichts zu tun, sondern sei ökonomischer Art.[12]
Nach dem sozio-kulturellen Erklärungsmodell dient das Nahrungstabu der Stärkung der eigenen Identität der Hindus und der Abgrenzung von anderen Religionsgruppen wie Christen und Muslimen. Für die Entstehung des Tabus ist dieser Ansatz weniger überzeugend als der von Harris, er kann jedoch das Aufrechterhalten des Tabus ebenso schlüssig erklären.
Schweinefleisch
Sowohl für Juden als auch für Moslems ist Schweinefleisch tabu. In beiden Religionen ist dieses Speiseverbot schriftlich fixiert. Das Alte Testament der Bibel verbietet den Verzehr einer ganzen Reihe von Tieren, darunter auch den des Schweins. So heißt es im 3. Buch Mose: „Alles, was gespaltene Hufe, und zwar ganz gespaltene Hufe hat, und wiederkäut unter den Tieren, das sollt ihr essen. […] und das Schwein, denn es hat gespaltene Hufe, und zwar ganz gespaltene Hufe, aber es wiederkäut nicht: Unrein soll es euch sein. Von ihrem Fleische sollt ihr nicht essen und ihr Aas nicht anrühren: Unrein sollen sie euch sein.“ (3. Buch Mose 11) Der Koran verbietet dagegen expliziert nur das Schwein als einziges Tier: „Verboten hat Er euch nur (den Genuss von) natürlich Verendetem, Blut, Schweinefleisch und dem, worüber etwas anderes als Allah angerufen worden ist. Wenn aber jemand (dazu) gezwungen ist, ohne (es) zu begehren und ohne das Maß zu überschreiten, so trifft ihn keine Schuld […]“. (Koran 2,173) Allerdings gibt es auch im Islam eine grundsätzliche Einteilung der Lebensmittel in rein (halal) und unrein (haram), die als bindend gilt, auch wenn sie nicht explizit auf dem Korantext basiert.
In beiden Religionen wird das Schweinefleischtabu von anerkannten Autoritäten heute oft damit begründet, dass Schweine eben im wahrsten Sinne des Wortes unsaubere Tiere seien, die sich mit Vorliebe im Dreck wälzten und ihren eigenen Kot fressen. Außerdem könne man durch den Verzehr von Schweinefleisch an Trichinose erkranken. Tatsächlich fressen Schweine aber nur dann Kot, wenn sie keine andere Nahrung finden. Da sie keine Schweißdrüsen haben, wälzen sie sich zur Abkühlung im Schlamm. Reines Wasser würde auf ihrem Fell wesentlich schneller verdunsten und kühlt daher weniger. Und auch Hühner und Ziegen fressen mitunter Kot. Die Trichinose wurde von Wissenschaftlern erst Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt und kann daher nicht der Grund für die Entstehung dieses Tabus gewesen sein.[13]
Archäologische Funde belegen, dass früher auch in der Region des Nahen Ostens Schweine gehalten und auch gegessen wurden. Zur Zeit des Neolithikums gab es dort noch ausreichend Eichen- und Buchenwälder, in denen Schweineherden Futter und Schatten fanden. Auch in der Bibel wird eine Schweineherde erwähnt. Auf Grund des Bevölkerungswachstums wurden aber immer mehr Wälder gerodet, um Ackerland zu gewinnen. So wurde die Schweinehaltung in dieser heißen Gegend zunehmend unökonomischer, denn Schweine sind zwar Allesfresser, können im Gegensatz zu Wiederkäuern aber keine Pflanzen mit hohem Zellulosegehalt verdauen, also kein Gras. Als Haustiere müssen sie mit Getreide oder Kartoffeln gefüttert werden, und dadurch werden sie zu Nahrungskonkurrenten der Menschen, im Unterschied zu den Wiederkäuern. Im Gegensatz zu Rindern sind Schweine auch nicht als Zugtiere geeignet, sie sind keine Reittiere, sie lassen sich nicht melken, und ihr Fell ist weniger vielseitig verwertbar. Ihre Haltung war damit laut Harris unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten ab einem bestimmten Zeitpunkt unökonomisch und daher unerwünscht.[14]
Sowohl das Kerngebiet des Judentums als auch das des Islam liegen im Nahen Osten. „Das wiederholte Auftreten der Aversionen gegen das Schwein in verschiedenen Kulturen des Vorderen Orients stützt […] unsere Ansicht, daß das Schweinefleischverbot der alten Israeliten eine Reaktion auf weit verbreitete Lebensbedingungen und nicht die Folge eines Glaubenssystems war, das den Vorstellungen einer bestimmten Religion über reine und unreine Tiere entsprang.“[15]
Das strukturalistische Erklärungsmodell geht im Gegensatz dazu davon aus, dass Nahrungstabus die Denkmodelle einer Gesellschaft widerspiegeln. Mary Douglas interpretiert die Speisegesetze des Alten Testaments als Teil einer Ordnung, in der die Attribute „rein“ und „unrein“ eine wichtige Rolle spielen. Heilig und rein seien alle Dinge, die makellos, vollkommen und eindeutig einzuordnen seien. Für Tiere werden in den Büchern Mose drei Gruppen gebildet für Tiere im Wasser, in der Luft und auf dem Land, wobei es für jede Gruppe bestimmte Kriterien gibt. Tiere, die alle Kriterien erfüllen, gelten als rein und damit essbar, die anderen als unrein. Das Schwein wird laut Douglas als unrein eingestuft, weil es den Kriterien für essbare Landtiere nicht entspricht.[16] Allerdings räumt die Forscherin selbst ein, dass diese Kriterien offenkundig erst später schriftlich festgelegt wurden, um bereits bestehende Essgewohnheiten zu stützen und zu begründen. Eva Barlösius: „Einige der tabuisierten Speisen wurden lange, bevor die mosaischen Speisegesetze entstanden, nicht gegessen. Die Klassifikation der Tiere nach dem Kriterium ‚paarzehige Wiederkäuer‘ wurde demnach erst im nachhinein erfunden.“[17]
Frederick J. Simoons als Vertreter der funktionalistischen Theorie sieht in dem Schweinefleischtabu die Folge eines Konflikts zwischen sesshaften und nicht-sesshaften Gruppen. Die Schweinehaltung sei für die Lebensform der Nomaden, also der alten Israeliten, ungeeignet gewesen und daher aufgegeben worden. Das Schwein sei so zu einem Symbol der Sesshaftigkeit geworden und aus diesem Grund abgelehnt worden. Sein Verzehr sei mit Volksstämmen assoziiert worden, die das Volk Israel bedroht hätten.[18]
Pferdefleisch
Pferdefleisch gilt in manchen Ländern als ganz normales Nahrungsmittel wie Rind- oder Schweinefleisch, in anderen Ländern wird es tabuisiert oder zumindest gemieden. Die jüdischen Speisegesetze untersagen unter anderem auch den Verzehr von Pferdefleisch, im Islam gelten Pferde und Esel ebenfalls nicht als reguläre Lebensmittel, da sie als Nutztiere nicht „halal“ sind. Und auch im Christentum galt lange Zeit ein päpstliches Schlachtverbot für Pferde als verbindlich. Tabu ist Pferdefleisch in Großbritannien, in den Vereinigten Staaten, Australien und Brasilien, während es in Frankreich, Belgien, Holland, Italien und Polen im Supermarkt verkauft wird. In Deutschland und in Österreich gibt es Pferdemetzger, das Fleisch wird aber nur von einer Minderheit gegessen und von vielen gemieden; Rheinischer Sauerbraten wurde früher aber üblicherweise mit Pferdefleisch zubereitet. Leberkäse mit Pferdefleisch gilt vor allem in Ostösterreich als Delikatesse.
Im Jahr 2002 waren China, Mexiko, Kasachstan, Italien, Argentinien und die Mongolei weltweit die Länder, in denen die meisten Pferde für den Verzehr geschlachtet und verarbeitet wurden. Im Jahr 2001 wurden allein in Europa rund 153.000 Tonnen Pferdefleisch konsumiert.[19]
Ernährungsphysiologisch spricht nichts gegen den Verzehr von Pferden. Das Fleisch gilt als sehr mager, kalorienarm und eisenhaltig, wobei gerade das Fleisch alter Tiere sehr zart sein soll. Knochenfunde und Höhlenmalereien aus der Steinzeit belegen, dass die Menschen damals häufig Pferde erlegt und gegessen haben. Als in Europa auf Grund der Klimaveränderung die ausgedehnten Weideflächen von Wäldern verdrängt wurden, wurde Pferdefleisch hauptsächlich von typischen Reitervölkern, wie den Mongolen und Hunnen, gegessen. Die Pferde wurden jedoch nie nur für den Verzehr gezüchtet, denn als reine Fleischlieferanten sind Rinder und Schweine auf Grund der effektiveren Futterverwertung besser geeignet. Die Römer der Antike aßen den Quellen zufolge keine Pferde, allerdings Esel. Sie waren kein Reitervolk und setzten bei Kriegen daher unterworfene Volksstämme als berittene Truppen ein.[20]
Die Mauren verfügten über berittene Heere. Sie eroberten im Jahr 711 Spanien und überquerten 720 die Pyrenäen; 732 konnten sie in der Schlacht von Tours durch das Heer von Karl Martell mit Mühe geschlagen werden, so dass ihr weiterer Vormarsch gestoppt wurde. Die Kavallerie soll bei diesem Sieg eine wichtige Rolle gespielt haben. Zu dieser Zeit waren bei vielen heidnischen Völkern, auch den Germanen, Tieropfer für die Götter üblich; auch Pferde wurden regelmäßig geschlachtet. Nach der Schlacht von Tours im Jahr 732 schrieb Papst Gregor III. einen Brief an den Missionar Bonifatius, in dem er ihn aufforderte, den Verzehr von Pferden ab sofort zu untersagen: „Unter anderem hast du auch erwähnt, einige äßen wilde Pferde und sogar noch mehr äßen zahme Pferde. Unter keinen Umständen, heiliger Bruder, darfst du erlauben, daß dergleichen jemals (wieder, erg.) geschieht. […] Denn dieses Tun ist unrein und verabscheuungswürdig.“ [21]
Marvin Harris sieht einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Bedeutung der Pferde für die Ritter und dem drohenden Vormarsch der islamischen Mauren sowie dem päpstlichen Verbot. Die Pferde waren zu kostbar für die Verteidigung der christlichen Gebiete als dass man sie hätte schlachten dürfen, folgert er. Dennoch wurden zu Tode gekommene Tiere in Europa auch weiterhin von den unteren Bevölkerungsschichten gegessen, die sich kaum anderes Fleisch leisten konnten. In Frankreich wurden im 18. Jahrhundert wiederholt Verordnungen erlassen, die den Verzehr von Pferdefleisch untersagten, was ein Hinweis darauf ist, dass dies immer wieder vorkam. Ein Meinungsumschwung soll durch die Schlacht bei Eylau im Jahr 1807 erfolgt sein, als der oberste Heeresarzt in Napoleons Armee, Baron Dominique Jean Larrey, den hungrigen Soldaten empfahl, das Fleisch getöteter Pferde zu essen. Mehrere französische Wissenschaftler betonten im 19. Jahrhundert den Nährwert dieses Fleisches und empfahlen es ausdrücklich für ärmere Familien. Während der Belagerung von Paris im Jahr 1871 durch die deutsche Armee sollen in der Stadt massenweise Pferde geschlachtet worden sein, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern.[22]
Während in Frankreich und einigen anderen europäischen Ländern der Konsum von Pferdefleisch im 19. Jahrhundert wieder zugelassen und sogar gefördert wurde, trifft dies auf Großbritannien und die Vereinigten Staaten nicht zu, obwohl dort der Katholizismus keine wichtige Rolle spielt. Harris erklärt das damit, dass es in England auf Grund seines Handelsimperiums seit dem 18. Jahrhundert keinen Mangel an anderem essbarem Fleisch gegeben habe, auch nicht für die unteren Schichten. Das gelte ebenso für die Vereinigten Staaten. Allerdings räumt er ein, dass Pferdefleisch in diesen Ländern nicht einfach als Lebensmittel ignoriert wird, sondern dass der Verzehr von den meisten Bewohnern ganz entschieden abgelehnt wird; es wird als „nicht essbar“ betrachtet, also tabuisiert. Dennoch behauptet er, dass viele Amerikaner bereit wären, Pferdefleisch zu essen, wenn es deutlich billiger als Rind- oder Schweinefleisch wäre. Er führt die existierenden Aversionen auch auf eine „Rindfleisch-Lobby“ und anhaltende Proteste von Tierschützern zurück, deren Motive er jedoch nicht hinterfragt.[23] In Texas gibt es zwei große Pferdeschlachthöfe, die das Fleisch fast ausschließlich ins Ausland liefern; ein Teil wird zu Hundefutter verarbeitet.
Die Aufrechterhaltung des Pferdefleischtabus auch in der heutigen Zeit und in Ländern, die überwiegend protestantisch sind, lässt sich schlüssiger mit einem anderen soziologischen Ansatz erklären, der davon ausgeht, dass einige Tiere nicht gegessen werden, weil sie als Haustiere gelten, nicht als Nutztiere, und damit den Menschen zu nahe stehen, um als Nahrungsmittel in Frage zu kommen. [24]
Blut
Sowohl im Judentum wie im Islam ist der Verzehr von Blut, blutigem Fleisch und Lebensmitteln, die Blut enthalten, tabu. In der Bibel heißt es im 5. Buch Mose (12,23): „Doch beherrsche dich und genieße kein Blut, denn Blut ist Lebenskraft, und du sollst nicht zusammen mit dem Fleisch die Lebenskraft verzehren.“ Dieses Verbot wird in der Tora wiederholt; es heißt in Leviticus (7,26-27): „In all euren Wohnstätten dürft ihr keinerlei Blut genießen, weder von Vögeln noch von Vierfüßlern. Wer nur immer etwas Blut genießt, der soll aus seinem Volk hinweggetilgt werden.“ Im Koran lautet das entsprechende Verbot in Sure 5,4: „Verboten ist euch der Genuss von Fleisch verendeter Tiere, Blut, Schweinefleisch […]“. Diesem Tabu wird in beiden Religionen durch das Schächten als Schlachtmethode entsprochen, wobei das Tier ausbluten soll. Die jüdischen Speisegesetze schreiben auch vor, wie das Fleisch der als rein geltenden Tiere zuzubereiten ist, um das Blut daraus vor dem Verzehr zu entfernen.[25]
In einer Koranauslegung (Razi, Bd. 2) heißt es, das Schächten sei notwendig, da sich bei anders geschlachteten Tieren das Blut in den Adern staue, dort verderbe und somit das Fleisch ungenießbar mache; dessen Verzehr sei gesundheitsschädlich.[26] Diese Annahme ist aber nicht haltbar, weil auch bei der konventionellen Schlachtung der Tod durch Ausbluten erfolgt, jedoch unter vorheriger Betäubung des Tieres.
Mit den bekannten Erklärungsmodellen für Nahrungstabus ist das Bluttabu nicht oder nur unzureichend erklärbar. Nach jüdischem Glauben ist fließendes Blut generell unrein, auch menschliches Blut. Eine Frau gilt so beispielsweise nach der Menstruation sieben Tage lang als unrein und muss ein spezielles Reinigungsritual vornehmen. Auch blutende Wunden sind unrein. Das Nahrungstabu kann hier also nicht isoliert gesehen werden.
Nichtreligiöse Nahrungstabus
Hundefleisch
Hundefleisch gilt nur in wenigen Ländern als Nahrungsmittel, während es in zahlreichen Ländern absolut tabu ist. Es ist jedoch ein Irrtum zu glauben, dass der Verzehr von Hunden in Europa nie üblich oder nur auf Notzeiten beschränkt war. Dieses Nahrungstabu hat sich hier den Quellen zufolge erst in jüngerer Vergangenheit entwickelt und weitgehend durchgesetzt, parallel zur wachsenden Bedeutung der Tierschutzbewegung in Europa. Hundefleisch wird unter anderem in China, Korea, Vietnam, auf den Philippinen und im Kongo gegessen.[27] Es gibt jedoch ernsthafte Hinweise darauf, dass zumindest bis in die jüngste Zeit hinein in der Schweiz und auch in Deutschland Hunde gegessen wurden.[28] Für die Zeit um 1900 gibt es offizielle Angaben über Hundeschlachtungen für Chemnitz, Dresden und Zwickau.[29] Im Mai 2006 erregte ein Interview von Prinz Henrik von Dänemark Aufsehen, das in einer dänischen Zeitschrift erschien und in dem er offen äußerte, dass er sowohl ein Liebhaber lebender Hunde als auch von Hundefleisch sei, denn zum Verzehr bestimmte Hunde würden eigens dafür gezüchtet, das sei also vergleichbar mit Hühnern. Der Geschmack von Hunden erinnere an Kalbfleisch.[30] Der Prinz ist Franzose und in Indochina aufgewachsen, wo er Gerichte aus Hundefleisch kennen lernte.
Rein ernährungsphysiologisch gesehen ist Hundefleisch zum Verzehr geeignet. Die Akzeptanz oder Ablehnung dieses Fleisches als Nahrung durch eine Gesellschaft oder soziale Gruppe ist, wie bei anderen Fleischsorten auch, als kulturell erworben anzusehen. Da Hunde in Europa und den Vereinigten Staaten beliebte Haustiere sind, wird die Diskussion über dieses Nahrungstabu bzw. dessen Nichtexistenz in manchen Ländern häufig sehr emotional geführt. Im Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 in Südkorea gab es internationale Kritik daran, dass der Verzehr von Hundefleisch in Korea nicht explizit verboten ist. Die Schauspielerin und Tierschützerin Brigitte Bardot sprach beispielsweise von „barbarischen Unsitten“ und handelte sich dafür den Vorwurf des Rassismus ein.[31]
Haustiere, die gewissermaßen als Teil der Familie gelten und „gehätschelt“ werden, werden von Anthropologen wie Harris als Schoßtiere bezeichnet, um sie von Haustieren abzugrenzen, die eher als Nutztiere gelten wie Kühe und Schweine. In Europa und den Vereinigten Staaten gelten Schoßtiere wie Hunde und Katzen überwiegend als nicht essbar. Harris bestreitet jedoch auf Grund seiner sozioökonomischen Theorie, dass die emotionale Bindung an Tiere der wesentliche Grund für die Entstehung eines Nahrungstabus sei. Er führt als Begründung Beispiele von ursprünglich lebenden Ethnien an, die Hunde oder auch Schweine im Haus halten und hätscheln, diese Tiere aber dennoch auch schlachten und essen, zum Beispiel die Maori. Nach Harris ist das Hundetabu ein weiteres Beispiel einer Kosten-Nutzen-Rechnung: „Wir im Westen verzichten darauf, Hunde zu essen, nicht weil Hunde unsere Lieblinge unter den Tieren sind, sondern im Grunde deshalb, weil Hunde, da sie selbst Fleischfresser sind, eine ineffektive Fleischquelle darstellen; wir verfügen über eine große Fülle alternativer Quellen tierischer Nahrung, und Hunde können uns lebendig zahlreiche Dienste leisten, die den Wert ihres Fleisches und Kadavers weit übertreffen.“[32] Er stellt die Hypothese auf, dass in China Hunde gegessen werden, weil anderes Fleisch dort immer wieder knapp sei. „Und was den Dienst angeht, den Hunde anderswo als Gesellschafter für den Menschen leisten, so ist Gesellschaft das einzige, wovon man in einem Land mit einer Milliarde Einwohner jede Menge kriegt.“[33] Auch diese soziale Funktion von Hunden und auch Katzen ist laut Harris eine „Dienstleistung“ und hat damit einen reinen Nutzwert.
Asien
Es ist bekannt, dass in mehreren asiatischen Ländern Hundefleisch verzehrt und teilweise auch in Restaurants angeboten wird. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Alltagsspeise; Hundefleisch gilt in diesen Ländern unter Liebhabern als hochwertige Spezialität und hat fast den Rang eines Heilmittels, ist also auch nicht billig. Und es gibt in diesen Ländern auch viele, die den Verzehr von Hunden generell ablehnen.[34]
Das bekannteste koreanische Gericht mit Hundefleisch ist eine Suppe namens poshintang, es gibt jedoch auch noch einige andere Speisen. Es trifft zumindest für Restaurants nicht zu, dass beliebige Haushunde im Kochtopf oder in der Pfanne landen; für den Verzehr werden so genannte „Tafelhunde“ gezüchtet, die gu genannt werden, während die üblichen Haushunde gyun heißen. Dem Verzehr von Hundefleisch werden in Korea gesundheitsfördernde Wirkungen zugeschrieben, darunter die Förderung der Rekonvaleszenz nach Krankheiten, Heilung von Tuberkulose, Bekämpfung von „Hitzeauszehrung“ im Sommer sowie die Anregung der männlichen Potenz.[35]
Auch in China, Malaysia, Taiwan und auf den Philippinen gilt Hundefleisch als Delikatesse und auch als männliches Aphrodisiakum. Besonders beliebt ist angeblich das Fleisch von Bernhardinern, die aus Europa importiert und dann weitergezüchtet werden, um „Fleischhunde“ zu produzieren. In Asien soll es über 60 entsprechende Zuchtstätten geben. Tierschützer aus Deutschland und der Schweiz haben offiziell gegen den Verzehr von Bernhardinern in China protestiert. In der Schweiz sammelte der Verein „SOS Saint Bernard Dogs“ rund 11.000 Unterschriften.[36] Der Verzehr von Hundefleisch im eigenen Land wurde in diesem Zusammenhang nicht erwähnt.
Da Hundefleisch in Asien keine Alltagsspeise ist und als seltene Delikatesse gilt, scheint Harris' These, es diene als Ersatz für anderes Fleisch, wenig schlüssig. Stattdessen wäre die Hypothese zu überprüfen, dass Hunde in Asien im Gegensatz zu Europa und den Vereinigten Staaten keinen ausgeprägten Status als Schoßtiere haben, sondern wie Rinder und Schweine eher als Nutztiere angesehen werden.
Europa
Für die meisten Europäer ist der Verzehr von Hundefleisch ebenso wie für US-Amerikaner ein Tabu. Innerhalb der EU ist das Schlachten von Hunden und der Handel mit Hundefleisch seit 1986 verboten. In der Schweiz ist zwar der Handel verboten, private Schlachtungen dagegen nicht. Medienberichte über den Verzehr von Hundefleisch in der Schweiz auch in jüngster Zeit sind durchaus als seriös einzustufen, und es scheint sich auch nicht um Einzelfälle zu handeln. Die Tierschützerin Edith Zellweger hat sich dazu wiederholt in Interviews geäußert und Beispiele genannt. Hundefleisch werde in der Schweiz auch illegal gehandelt, wobei es im Land drei große Anbieter gebe; ein Kilo koste rund 25 Schweizer Franken. „Nicht nur im Rheintal und im Appenzell, in der ganzen Schweiz werden Hunde und Katzen gegessen“, so Zellweger. Der Journalist Markus Rohner hat Interviews mit „Hundeessern“ geführt und veröffentlicht. Der Verzehr von Hundefleisch soll vor allem im ländlichen Raum üblich sein, wobei es auch Abnehmer in Deutschland geben soll.[37] Außerdem gilt das Fett von Hunden als altes Heilmittel bei Husten und Atemwegserkrankungen. Die weite Verbreitung von Hunde- und Katzenfett, aber auch von Hundefleisch innerhalb der deutschsprachigen Volksmedizin ist belegt. Und schon Hippokrates empfahl gekochten Hund bei weiblicher Unfruchtbarkeit. [38]
Historische Quellen bieten Anhaltspunkte dafür, dass Hundefleisch in der Schweiz und in Österreich früher häufig verzehrt wurde, während sich für das heutige Gebiet der Bundesrepublik keine so eindeutigen Aussagen machen lassen, von Ausnahmen abgesehen. Dass in mittelalterlichen Heilkundebüchern von Hunde- und Katzenfleisch abgeraten wird, lässt jedoch den Schluss zu, dass es mitunter auch gegessen wurde. Im Quellenkatalog zum Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ) gibt es etliche Belege für den Verzehr dieses Fleisches in ärmeren Familien noch im 20. Jahrhundert. In Tirol war noch 1927 ein Brauch mit dem Namen „Katzenhochzeit“ üblich, dessen Abschluss eine Mahlzeit aus Katzenfleisch bildete. Bei Hungersnöten wurden häufig auch Hunde und Katzen gegessen. [39]
Dass Hunde und Katzen getötet und deren Felle bzw. Häute verwertet wurden, lässt sich im deutschen Sprachraum durch Quellen recht sicher belegen und somit auch ihr Status als Nutztiere. Die Häute wurden von Gerbern, Schustern, Handschuhmachern und Kürschnern verarbeitet. Es gab die Bezeichnung Hundeschläger; der so genannte Hundeschlag war eine Aufgabe der Abdecker, um die Zahl herrenloser Hunde in den Städten zu verringern. Die von Archäologen gefundenen Knochen aus der Zeit des Mittelalters belegen, dass zahlreiche Hunde und Katzen gehäutet wurden, wobei die Tiere in der Regel Jungtiere waren. Die große Zahl solcher Funde lässt den Schluss zu, dass diese gezielt getötet wurden und keines natürlichen Todes gestorben waren.[39] All das belegt jedoch nicht, dass die Tiere auch verzehrt wurden. Es ist davon auszugehen, dass andere Fleischarten auch von den unteren Bevölkerungsschichten bevorzugt wurden, zum Beispiel Kaninchen oder Pferdefleisch. Krünitz schreibt zwar „Das Hundefleisch ist sehr schmackhaft und von gutem Hammelfleisch kaum zu unterscheiden“, doch erwähnt er den regelmäßigen Verzehr nur bei außereuropäischen Völkern, von medizinischer Verwendung abgesehen.[40]
Gedanken des Tierschutzes waren in der frühen Neuzeit noch weitgehend unbekannt, an Methoden von Tierquälerei wurde kein Anstoß genommen. Das Quälen von Katzen galt im 16. Jahrhundert noch als öffentliche Volksbelustigung.[39] Die gehaltenen Haustiere hatten eine eindeutige Funktion; Schoßhunde kamen in der frühen Neuzeit zuerst bei adligen Damen in Mode, die diese mit sich herumtrugen. In England gewann die Tierschutzbewegung nachweislich erst im 19. Jahrhundert an Bedeutung, in dieser Zeit entstand parallel auch die Vegetarier-Bewegung, die jeglichen Fleischverzehr vor allem aus ethischen Gründen ablehnte. Gleichzeitig wurde die öffentliche Schlachtung in Schlachthäuser verlegt und damit den Blicken der Öffentlichkeit entzogen, die an diesen Vorgängen erstmals in der Geschichte zunehmend Anstoß nahm.[41]
Nach einem ethnosoziologischen Ansatz (Leach) gelten Hunde und Katzen in den Gesellschaften als nicht essbar, in denen diese gewissermaßen als Familienmitglieder betrachtet werden und den Menschen auf Grund der emotionalen Bedeutung dieser Tiere zu nahe stehen, um als Nahrung in Frage zu kommen. Die emotionale Bindung an Haustiere scheint im städtischen Milieu stärker zu sein als im ländlichen. Entsprechende Studien stehen jedoch noch aus.
Insekten
Insekten werden von der Mehrheit der Europäer überhaupt nicht als Nahrungsmittel in Betracht gezogen, obwohl viele Arten prinzipiell essbar sind und in vielen Kulturen Asiens, Afrikas und Südamerikas auch verzehrt werden. In Europa und in den Vereinigten Staaten werden Insekten jedoch in der Regel mit Schmutz assoziiert und rufen häufig Ekelgefühle hervor. Für den Verzehr von Insekten gibt es im westlichen Kulturkreis den Fachbegriff Entomophagie, woraus hervorgeht, dass dies als ungewöhnliches und abweichendes Verhalten betrachtet wird. Anthropologen gehen jedoch davon aus, dass einige Insekten früher durchaus auch Bestandteil der europäischen Nahrung waren. Der antike Dichter Aristophanes bezeichnete Heuschrecken als „vierflügeliges Geflügel“, und die Römer aßen gerne eine Made namens Cossus (Weidenbohrer). Im Mittelalter veränderten sich jedoch die europäischen Essgewohnheiten, und die Insekten verschwanden aus dem Speiseplan. Dennoch soll noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Nordhessen und in Frankreich Maikäfersuppe zubereitet worden sein. [42] Sowohl in der Bibel als auch im Koran wird der Verzehr von Heuschrecken erwähnt.
Angesichts befürchteter Versorgungsengpässe mit Fleisch bei einem stetigen Anstieg der Weltbevölkerung gibt es bei Ernährungsexperten Überlegungen, Insekten als geeignete Nahrung auch in Europa populärer zu machen. Vereinzelt werden „Insektenmenüs“ auch von Restaurants angeboten, es sind auch entsprechende Kochbücher erschienen, doch sprechen sie in unserem Kulturkreis bislang nur eine Randgruppe an. Zum Verzehr bestimmte Insekten fallen innerhalb der EU unter die Novel Food-Verordnung und müssen für den Handel zugelassen werden. Ohne es zu wissen, essen jedoch auch westliche Verbraucher angeblich jedes Jahr eine gewisse Menge Insekten, da zermahlene Spuren davon zum Beispiel in Marmelade, Erdnussbutter oder tief gekühltem Gemüse enthalten seien. [42] Auch Feigen enthalten zahlreiche Feigenwespen in ihren Fruchtständen.
Ernährungsphysiologisch gesehen sind viele Insekten eine gute Proteinquelle, vor allem Larven. 100 Gramm afrikanische Termiten enthalten 610 Kalorien, 38 Gramm Protein und 46 Gramm Fett; 100 Gramm Nachtfalterlarven haben rund 375 Kalorien bei 46 Gramm Protein und 10 Gramm Fett. Getrocknete Bienenlarven bieten zu 90 Prozent Proteine und acht Prozent Fett. Dass Insekten eine unverdauliche Substanz namens Chitin enthalten, spricht nicht gegen ihre Verzehrbarkeit, da sich diese entfernen lässt; auch Hummer und Garnelen müssen vor dem Verzehr davon befreit werden. Und die Larven enthalten gar kein Chitin.[43] Der Geschmack von Termiten und Grillen soll an Kopfsalat erinnern, frittierte Heuschrecken schmecken süßlich. Es sind jedoch nicht alle Insekten essbar, ein Teil ist giftig.[42]
Weltweit gibt es zahlreiche Beispiele für Kulturen, die Insekten als Nahrungsmittel ansehen. In ganz Asien werden die Riesenwasserwanzen verzehrt, in Thailand werden frittierte Heuschrecken auf jedem Markt angeboten, in Mexiko Grashüpfer und andere Insektenarten, die teilweise mit Schokolade überzogen als Süßwaren verkauft werden. In Australien liegen Witchetty-Maden in den Supermärkten im Kühlregal. [42] Viele Indianerstämme ernährten sich teilweise von Insekten. In Nevada und in Kalifornien trieben sie Heuschreckenschwärme systematisch auf Flächen mit glühender Kohle, wo sie direkt zum Verzehr geröstet wurden.[44]
Die Frage, wieso Insekten trotz ihrer Essbarkeit in Europa und den Vereinigten Staaten tabuisiert sind, beantwortet Harris wie immer mit seiner Theorie der „optimalen Futtersuche“ und einem ungünstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis. Nur Insekten, die eine bestimmte Größe haben und gleichzeitig in Schwärmen auftreten, seien als Nährstoffquelle wirklich interessant. „Wenn […] eine natürliche Umgebung arm an Insektenfauna ist – besonders an großen und/oder schwarmbildenden Arten – und wenn sie gleichzeitig reich an domestizierten oder wildlebenden großen Wirbeltierarten ist, dann werden im Zweifelsfall zur Nahrung keine Insekten gehören.“[45]
Dieser Ansatz erklärt jedoch nur, wieso Insekten als Nahrung gemieden werden, er erklärt nicht die ausdrückliche Tabuisierung und den damit verbundenen Ekel. Das räumt Harris auch selbst ein; schon der Hautkontakt mit krabbelnden Insekten wird von vielen als ekelhaft empfunden. Seine Erklärung dafür ist: „Ob eine Tierart zur Gottheit gemacht oder verabscheut wird, hängt davon ab, ob sie sonst noch einen Nutzen hat oder nur schädlich ist. […] Ein Schwein, das nicht gegessen wird, ist nutzlos […] Deshalb wird es verabscheut. Insekten, die nicht gegessen werden, sind schlimmer als Schweine […] Sie verschlingen nicht nur die Frucht auf den Feldern, sie fressen uns auch das Essen vor der Nase vom Teller weg, beißen uns, stechen uns, verursachen uns Juckreiz und trinken unser Blut. […] Sie sind durch und durch schädlich und haben nicht den geringsten Nutzen. […] Da wir sie ja nicht essen, steht es uns frei, sie mit dem Inbegriff des Bösen zu identifizieren […] und Sinnbilder des Schmutzes, des Angsterregenden, des Verhaßten aus ihnen zu machen.“[46] Diese Erklärung hat den Nachteil, dass sie auf andere Kulturkreise offenkundig nicht zutrifft, denn dort werden – auch laut Harris – Insekten, die die Ernte gefährden und damit Nahrungskonkurrenten sind, bevorzugt gegessen, um ihre Zahl zu reduzieren. Harris schreibt beispielsweise: „Angesichts der Zerstörung, die die Heuschrecken im Bereich der pflanzlichen und der tierischen Nahrungsquellen anrichten, bleibt den davon Betroffenen gar nichts anderes übrig, als ihren Speiseplan zu erweitern und die Verzehrer zu verzehren.“[47] Auch in Europa sind schon Heuschreckenschwärme als Plage aufgetreten.
David Gordon, Autor eines Insekten-Kochbuchs, widerspricht Harris und geht im Gegenteil davon aus, dass Insekten gerade deshalb in Agrargesellschaften tabuisiert werden, weil sie die Ernte und damit die Nahrungsgrundlage von Menschen zerstören. Das mache sie zu verhassten Schädlingen. „Ungeziefer zu essen wäre dann ja, wie mit dem Feind ins Bett zu gehen.“[42] Allerdings erklärt dies nicht, warum auch Insektenarten tabuisiert werden, die unschädlich bis nützlich für den Menschen sind.
Es gibt also völlig unterschiedliche Deutungsversuche, je nachdem, welcher Kulturraum betrachtet wird. Neben den bereits genannten Problemen ist mit rationalen Argumenten auch schwer erklärbar, wieso andere Gliederfüßler wie Garnelen oder Krabben in Europa von vielen nicht als ekelhaft eingestuft, sondern als Lebensmittel akzeptiert werden.
Pflanzen
Während es in allen Kulturräumen Fleischtabus gibt, sind Pflanzentabus selten und vor allem von kleineren Ethnien bekannt; diese Tabus können geschlechtsspezifisch sein, also nur für Männer oder nur für Frauen gelten. Sie werden von wenigen Autoren überhaupt erwähnt, einige setzen den Begriff Nahrungstabu sogar pauschal mit Fleischtabu gleich.
Im Hinduismus gelten scharfe Gewürze wie Chili, Zwiebeln und Knoblauch als tabu und unrein, da diese angeblich sexuelle Lust fördern. Die Ethnologin Anne Meigs hat die Kultur und das soziale Leben des Stammes der Hua in Neuguinea erforscht und unter anderem eine Liste mit den Nahrungstabus der initiierten Männer erstellt. Alle tabuisierten Lebensmittel - tierische wie pflanzliche - werden mit Weiblichkeit und weiblicher Sexualität assoziiert. Am stärksten tabuisiert ist das Opossum, das gewissermaßen als Symbol des Weiblichen gilt. Ebenfalls tabu sind rote Gemüsearten, rötliche Früchte und rote Pilze, die mit der Menstruation in Verbindung gebracht werden, außerdem unter anderem pelzige Tiere und „behaartes“ Gemüse (Schamhaar), Lebensmittel mit einem bestimmten Geruch (eine Pilzart und zwei Arten von Yamswurzeln), die angeblich an menstruierende Frauen erinnern sowie wild wachsende Pflanzen wie wilde Bananen (wild = schädlich für Männer). Die Männer rechnen mit Sanktionen für den Fall, dass sie diese Nahrungstabus brechen. Der Verzehr eines Opossums würde nach ihrem Glauben dazu führen, dass sie schwanger werden.[48] Es handelt sich dabei um eine Form von magischem Denken, bei dem Lebensmitteln besondere Eigenschaften zugeschrieben werden. Im westlichen Kulturkreis wurden einige Pflanzen früher ebenfalls mit Sexualität assoziiert, allerdings wurden diese nicht mit einem Tabu belegt, sondern als Aphrodisiaka verzehrt.
Verbote und Meidung von Nahrungsmitteln
Der Verzehr einiger Tierarten oder zumindest die Jagd darauf ist aus Gründen des Artenschutzes gesetzlich verboten. Dazu gehören beispielsweise Schildkröten, Biber, einige Robbenarten und Wale. Allerdings haben nicht alle Staaten weltweit das Washingtoner Artenschutzabkommen unterzeichnet. Innerhalb der EU gelten darüber hinaus weitere Verbote, zum Beispiel für den Verzehr von Hunden und Katzen, die im Zusammenhang mit dem Tierschutz zu sehen sind.
Ein gesetzliches Verbot ist nicht mit einem Tabu gleichzusetzen. Es gibt jedoch Tierarten, die unabhängig von einem Verbot von der Bevölkerungsmehrheit einzelner Länder gemieden werden, und zwar noch als Lebensmittel angesehen werden, aber de facto nur von wenigen gegessen werden. Die Abgrenzung zwischen Nahrungstabu und Meidung ist schwierig, da die Grenzen fließend sind. Die meisten Autoren nehmen daher keine Trennung vor und behandeln beide Phänomene als Tabu.
Die Soziologin Monika Setzwein unterscheidet zwischen Verbot, Tabu und Meidung, wobei sie die allgemeine Akzeptanz von Tabus und von Meidungen höher einschätzt als die von Verboten. Sie definiert Tabu als „inneres Verbot“, das keiner besonderen Begründung bedarf, da es als Selbstverständlichkeit gilt. „Ein wesentliches Merkmal des Tabus ist seine emotionale Besetzung und sein häufig ambivalenter Charakter, in dem sich Ehrfurcht und Abscheu vereint finden. […] Von Verboten und Tabus können Nahrungsmeidungen abgegrenzt werden, die auf den sozialen Konnotationen der Speisen beruhen. Meidungen betreffen Substanzen, die […] nicht ausdrücklich verboten sind, jedoch aufgrund der gesellschaftlichen Assoziationen, die sie hervorrufen, von jeweils unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft abgelehnt werden.“[49] Laut Setzwein können sowohl Meidungen als auch Verbote im Laufe der Zeit zu Tabus werden.
Für Klaus Eder sind Nahrungstabus grundsätzlich mit Emotionen und moralischen Aspekten verknüpft: „Eßtabus sind kulturell tiefsitzende und zugleich emotional hochbesetzte Eßverbote. Sie drücken ein kollektives moralisches Gefühl oder moralisches Empfinden aus […]“[50] Diese Definitionen haben in der Wissenschaft keine Allgemeingültigkeit. Der nicht religiös begründete Nichtverzehr mancher Tierarten kann daher sowohl als Meidung als auch als Tabu interpretiert werden.
Singvögel
Für Singvögel gibt es innerhalb der EU keine Verzehrsbeschränkungen, lediglich für den Vogelfang existieren im Sinne des Tierschutzes Einschränkungen. Dennoch gelten Singvögel in den Ländern nördlich der Alpen seit geraumer Zeit nicht mehr als akzeptables Nahrungsmittel, während sie südlich der Alpen, vor allem in Italien und in Frankreich, als Delikatesse in Restaurants serviert werden.
Anhand von alten Kochbüchern ist nachzuweisen, dass Singvögel jahrhundertelang auch im nördlichen Europa gegessen wurden, und zwar prinzipiell von allen Bevölkerungsschichten. Erst mit dem Erstarken der bürgerlichen Tierschutzbewegung im 19. Jahrhundert wandelte sich die Einstellung zum verbreiteten Vogelfang, wie der Kulturwissenschaftler Friedemann Schmoll nachgewiesen hat, der der Frage nachgegangen ist, wie aus „selbstverständlichen Lebensmitteln“ hier allmählich „unantastbare Geschöpfe“ wurden.[51] Er behandelt den Nichtverzehr von Singvögeln als Nahrungstabu, nicht als Meidung.
Bekannte deutsche Vogelspeisen waren zum Beispiel Thüringer Meisensuppe, Helgoländer Drosselsoop oder die international bekannten und beliebten Leipziger Lerchen. Schmoll hat festgestellt, dass seit dem 18. Jahrhundert in Nordeuropa zunehmend Protest gegen den Verzehr von Singvögeln laut wurde. Die Forstwissenschaft habe zu dieser Zeit begonnen, den Wert dieser Vögel für den Wald als biologische Schädlingsbekämpfer zu betonen. Diese Auffassung habe allmählich zu einem öffentlichen Meinungsumschwung geführt, die Vögel seien zunehmend als „gefiederte Freunde“ angesehen worden. „Damit war auch die Eßbarkeit von Vögeln schwieriger geworden, denn gute Freunde – so die Gesetze des freundschaftlichen Umgangs – bringt man nicht einfach um die Ecke, um sie zu verspeisen.“[51]
Generell begann das Bürgertum laut Schmoll etwa zur gleichen Zeit im Gegensatz zu Adel und Bauern eindeutige Sympathien für Tiere zu entwickeln und damit eine emotionalere Einstellung zum Töten und Verzehren von Tieren. Außerdem verlor der Vogelfang im 19. Jahrhundert wirtschaftlich stark an Bedeutung, da genügend anderes Fleisch zur Versorgung der Bevölkerung vorhanden war. Vogelfleisch wurde von einer gesuchten Delikatesse zu einer Speise für die Armen, die sich sonst kein Fleisch leisten konnten. Im Bezug mit nationalistischem Gedankengut wurde die Ablehnung des Singvogelverzehrs von einigen Autoren zu einem Symbol der Zivilisation und der Kultur eines Volkes erhoben. So erklärte Ludwig Reinhard 1912, dass die Deutschen sich als „Kulturmenschen“ so positiv von anderen Kulturen unterschieden: „Anders die gefühlsrohen, noch von der römischen Kaiserzeit (sich, erg.) an Blutvergießen und Tierquälerei […] erfreuenden Romanen, die diese kleinen Leichname gerupft, an dünnen Weidenruten aufgezogen, auf den Markt bringen und ihren Volksgenossen […] verkaufen.“[51] Allerdings musste Reinhard zugeben, dass Lerchen in Aspik ein bevorzugtes Gericht des deutschen Kaisers Wilhelm I. waren.
Schildkröten
Ein Beispiel für ein gesetzlich begründetes Nahrungsverbot ist das Importverbot für Meeresschildkröten, wobei die Art, die für die Fleischeinlage der echten Schildkrötensuppe verwendet wurde, Suppenschildkröte genannt wird. Dieses Verbot trat in Deutschland 1984 in Kraft; seit Ende der 1980er Jahre sind keine Produkte aus Meeresschildkröten mehr im Handel. Die Meeresschildkröte gilt als gefährdete Art und steht unter dem Schutz des Washingtoner Artenschutzabkommens. Nach den jüdischen Speisegesetzen sind Schildkröten unrein und daher tabu.
Die Schildkrötensuppe wurde im 18. Jahrhundert in Großbritannien erfunden und galt in Europa sehr bald als besondere exotische Delikatesse für das gehobene Bürgertum. Das Essen dieser Suppe wurde zum Statussymbol. Der Verzehr von Schildkrötenfleisch war jedoch schon vorher populär gewesen, es wurde ab dem 16. Jahrhundert in großen Mengen importiert und galt als sehr nahrhaft. Da die Wasserschildkröten als „Fische“ eingestuft wurden, war ihr Verzehr in der Fastenzeit zulässig, was den Konsum deutlich steigerte. Noch heute gelten diese Schildkröten in Südamerika als Fastenspeise. Allein in Mexiko werden nach Angaben von Tierschützern in der Woche vor Ostern trotz des Fangverbots etwa 10.000 Exemplare gegessen.[52]
Der Import von Schildkröten nach Europa nahm im 19. Jahrhundert weiter zu, so dass ihr Bestand schon in dieser Zeit stark abnahm, was jedoch das Image der Exklusivität noch steigerte. Auch das Fleisch in Konserven war recht teuer. In der Nachkriegszeit wurde Schildkrötensuppe in Dosen in Westdeutschland ein begehrtes Produkt, das nun auch für die Mittelschicht erschwinglich war. Seit den 1970er-Jahren verstärkte sich mit der wachsenden Bedeutung der Ökologie-Bewegung jedoch die Kritik am Verzehr von Schildkröten.[53] Zwar gab es schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als Ersatz die Mockturtlesuppe aus Kalbskopf, jedoch nicht aus Artenschutzgründen, sondern wegen des hohen Preises der echten Schildkrötensuppe.
Deutschland war bis 1984 ein bedeutendes Importland von Schildkrötenfleisch. Es ist davon auszugehen, dass es ohne Verbot nur von einem Teil der Bevölkerung in Europa gemieden und von vielen weiterhin gegessen würde. In Südamerika und Asien werden nach wie vor verschiedene Landschildkrötenarten, aber auch Suppenschildkröten verzehrt; in China werden Schildkröten auch zu angeblichen Potenzmitteln und diversen Arzneien verarbeitet. Allein in China sollen jährlich rund 20 Millionen Exemplare verzehrt werden.[54]
Auch Biber stehen unter Artenschutz, waren allerdings schon einige Zeit vorher aus den Kochbüchern verschwunden – die Art war vielerorts schon im 19. Jahrhundert ausgestoben. Ebenso wie die Suppenschildkröte waren Biber auf Grund ihres schuppigen Schwanzes im Mittelalter als „Fisch“ deklariert worden, so dass sie in der Fastenzeit gegessen werden durften. Vor allem der Schwanz galt als Delikatesse. [55] Eichhörnchen wurden früher in Europa ebenfalls gegessen. In Deutschland fallen sie unter die Bundesartenschutzverordnung, in der Schweiz ist die Jagd seit 1989 verboten. In der Basler Kochschule von Amelie Schneider-Schlöth war noch in den 1950er Jahren zu lesen: „Eichhörnchenfleisch ist sehr fein und zart und gilt als ein besonders beliebtes Gericht.“ Es werde am besten als Ragout zubereitet.[56]
Innereien
Traditionell wurden nach der Schlachtung von Rindern, Schweinen und Geflügel alle verwertbaren Teile gegessen und in irgendeiner Weise verarbeitet, nicht nur in armen Haushalten. Mittlerweile finden Innereien jedoch nur noch selten Verwendung in der Küche, der Anteil entsprechender Rezepte in Kochbüchern ist seit dem 19. Jahrhundert stark zurückgegangen. Der Engländer Stephen Mennell stellt fest: „Den heftigsten Widerwillen empfinden viele Menschen heute nicht gegenüber dem Fleischverzehr überhaupt, sondern insbesondere gegenüber bestimmten eßbaren Teilen von Tieren, die man als Innereien bezeichnet.“[57] Innereien lassen sich daher als Beispiel für die Meidung von Nahrungsmitteln auffassen, wobei die Ablehnung in einzelnen Ländern und auch regional unterschiedlich stark ausgeprägt ist.
Der zunehmende Widerwille betrifft nicht alle Innereien gleichermaßen; außerdem kann etwas, das von weiten Bevölkerungskreisen entschieden abgelehnt wird, von einer Minderheit gleichzeitig als Delikatesse angesehen werden, zum Beispiel Kalbsbries. „Sozialpsychologen könnten wahrscheinlich eine Guttman-Skala der Einstellungen zu Innereien aufstellen, mit steigender Ablehnung von Leber über Niere, Zunge, Bries, Hirn, Kutteln bis zu Hoden und Augen, in der die Amerikaner die höchste Stufe der Ablehnung, die Engländer einen Mittelplatz und die Franzosen […] die niedrigste Stufe einnehmen würden.“[58]
In Deutschland ist der Verzehr von Innereien nach Angaben des Fleischerhandwerks vor allem durch die Angst vor BSE deutlich zurückgegangen. Für 1985 wurde noch ein jährlicher Pro-Kopf-Verzehr von 2,1 kg angegeben, 1995 waren es nur noch 1,2 kg, im Jahr 2003 sogar nur noch 600 Gramm.[59]
Da Innereien auch früher als weniger wertvoll und nahrhaft galten als das Muskelfleisch, wurden sie des öfteren nach dem Schlachten an Suppenküchen für Arme und arme Familien verschenkt, was sie im Laufe der Zeit als typische Armenkost erscheinen ließ. Schon im 17. Jahrhundert enthielten englische Kochbücher weniger Rezepte für Innereien als französische.[60] Im 20. Jahrhundert ging die Anzahl der Rezepte deutlich zurück. 1939 heißt es in einem Artikel in Wine and Food: „Es gibt eine ganze Reihe von Teilen des Tieres, die man gewöhnlich als unpassend für ein korrektes Essen betrachtet und die von Liebhabern meist mit leichten Schuldgefühlen verzehrt werden […]“[61] 1969 nannten bei einer Umfrage in Frankreich zu Aversionen gegen Lebensmittel zwar 4,1 Prozent der Befragten Innereien, aber doppelt so viele Sellerie und Rüben.[60]
Milch
Während Milch und Milchprodukte in Europa und in den Vereinigten Staaten beliebte Nahrungsmittel sind, werden sie in anderen Kulturkreisen von vielen Menschen abgelehnt und gemieden, zum Beispiel von vielen Asiaten. Das hat nichts mit dem Geschmack der Milch zu tun, sondern basiert auf der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung im Erwachsenenalter nicht über das Enzym Lactase verfügt, das nötig ist, um den in der Milch enthaltenen Milchzucker (Lactose) abzubauen und zu verdauen. Dieses Phänomen heißt Lactoseintoleranz und ist genetisch bedingt. Säuglinge verfügen dagegen in allen Kulturen noch über dieses Enzym, das sie benötigen, um Muttermilch verdauen zu können. Der Körper stellt die Produktion im Regelfall nach etwa drei Jahren ein; die Lactoseverträglichkeit ist daher nicht die Regel, sondern eine genetische Abweichung.[62] Ohne das Enzym gelangt der Milchzucker unverdaut in den Dickdarm und gärt dort, was zu Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall führt, wobei das Ausmaß der Beschwerden von der Menge abhängt. Der Verzicht auf Milch bei vielen Völkern ist keine Tabuisierung, sondern ein Beispiel für eine Meidung aus physiologischen Gründen.
Wissenschaftlich wird die Bildung von Lactase noch im Erwachsenenalter mit der Evolutionstheorie begründet. Die Viehzucht wurde erst vor rund 10.000 Jahren eingeführt, wahrscheinlich in der Uralregion, von wo aus sie sich ausbreitete. Erst seit diesem Zeitpunkt kamen Milch und Milchprodukte für die menschliche Ernährung in Frage, denn Wildtiere lassen sich nicht melken. Viehzüchter, die durch eine genetische Mutation in der Lage waren, sich von Milch zu ernähren, waren nach dieser Theorie überlebensfähiger und daher bei der Fortpflanzung im Vorteil. Die ethnischen Gruppen, die heute Milch vertragen, sind die Nachfahren dieser Viehzüchterstämme. In vielen Regionen der Erde spielte Viehzucht bis in die jüngste Vergangenheit hinein jedoch keine Rolle, so dass das Enzym Lactase überflüssig war.[62] [63]
Im Gegensatz zu den Chinesen sind die meisten Inder in der Lage, Milch problemlos zu verdauen. In Indien spielt die Rinderhaltung traditionell eine große Rolle. Harris erklärt die unterschiedliche Entwicklung damit, dass in der chinesischen Feldwirtschaft auf Bewässerungsbasis und mit Terrassenanbau keine Zugtiere eingesetzt werden können, so dass die Haltung von Rindern sinnlos gewesen wäre. Schweine lassen sich nicht melken. Kalzium ist auch in dunklen Blattgemüsen enthalten.[64]
Dennoch hat sich in der jüngsten Vergangenheit in China die Milchwirtschaft entwickelt. Nach der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 gab es bereits 120.000 Milchkühe, der jährliche Milchertrag betrug 250.000 Tonnen. Milch wurde nicht als Lebensmittel, sondern als Heilmittel angesehen und galt als Stärkungsmittel für Kranke. [65] Seit einigen Jahren fördert die chinesische Regierung mit entsprechender Propaganda den Milchkonsum; seit 1999 gibt es die Kampagne „ein Glas Milch zur Stärkung unseres Volkes“ und das „Projekt Schulmilch“. Damit soll nach offiziellen Angaben die Kalziumversorgung der Bevölkerung verbessert werden.[65]
2004 gab es rund 10 Millionen Milchkühe in der VR China, es wurden knapp 22 Millionen Tonnen Milch produziert. Der jährliche durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum wurde mit 12 Liter angegeben, in den Städten lag er bei 25 Litern, in Peking bei 47 Litern. Rund 200 Millionen Chinesen (von 1,3 Mrd. Einwohnern) trinken angeblich mittlerweile zumindest in kleinen Mengen Milch.[65] Käse gilt in China jedoch weiterhin als „verdorbene Milch“ und ungenießbar.
Übersicht verschiedener Nahrungstabus
Bezeichnung | Nahrungstabu z. B. in | Lebensmittel z. B. in |
---|---|---|
Frosch | Vereinigte Staaten, England | Frankreich, Asien |
Hund | Europa, Vereinigte Staaten | China, Korea, Kongo |
Insekten | Europa, Vereinigte Staaten | Asien, Afrika |
Katze | Europa, Vereinigte Staaten | China, Korea |
Meerschweinchen | Europa, Vereinigte Staaten | Peru |
Pferd | Vereinigte Staaten, England, Australien | Frankreich, Italien, Deutschland |
Ratte | Europa, Vereinigte Staaten | Ghana, Thailand |
Rind | Hinduismus | Christentum, Islam |
Schildkröte | Judentum | Asien, Südamerika |
Schwein | Judentum, Islam | Christentum |
Singvogel | Deutschland | Italien, Frankreich |
Spinne | Europa, Vereinigte Staaten | Laos |
Kannibalismus
Mittlerweile gilt Kannibalismus in fast allen Kulturen als starkes Tabu, das häufig als Maßstab für Zivilisation angesehen wird. Sozial akzeptiert wird der Verzehr von Menschenfleisch nur in besonderen Ausnahmesituationen, zum Beispiel bei Schiffbrüchigen, die nur so überleben können. Marvin Harris begrenzt den Begriff auf „den gesellschaftlich sanktionierten Verzehr von Menschenfleisch bei gleichzeitigem Vorhandensein anderer Nahrungsmittel“,[66] wobei der Ausdruck Nahrungsmittel in diesem Fall umstritten ist.
Archäologische Funde deuten darauf hin, dass Kannibalismus in der Frühgeschichte der Menschheit verbreitet war. Die ältesten entsprechenden Knochenfunde sind rund 350.000 Jahre alt und wurden in China gefunden. Auch aus der Zeit der Neandertaler gibt es solche Funde, die eindeutige Bearbeitungs- und auch Feuerspuren aufweisen, denn das Fleisch wurde offenkundig nicht roh verzehrt. Menschenopfer als Teil eines religiösen Kultes aus der Urzeit wurden in Bad Frankenhausen in Thüringen entdeckt. [67]
Anthropologen und Ethnologen unterscheiden im Allgemeinen vier Formen von Kannibalismus:
- den so genannten profanen Kannibalismus, bei dem Menschenfleisch als Nahrungsmittel angesehen wird
- den antisozialen Kannibalismus, auch Kriegskannibalismus genannt, bei dem gefangene Feinde getötet und gegessen werden
- den gerichtlichen Kannibalismus, bei dem Verurteilte (oft aus der eigenen Gemeinschaft) zur Strafe gegessen werden
- den rituellen Kannibalismus als Teil eines religiösen Kultes [68]
Kannibalismus als Merkmal einer psychischen Störung wird nur in der Psychologie erforscht.
Zum rituellen Kannibalismus werden zum Beispiel Begräbnisrituale gezählt, zu denen der Verzehr der Asche Verstorbener gehörte, etwa bei Indianern im Amazonasgebiet. Hintergrund ist die Vorstellung, dass der Geist der Toten so nicht verloren geht, sondern im Körper der Verwandten weiterlebt.
Beim Stamm der Fore in Papua-Neuguinea wurden die bestatteten Toten nach kurzer Zeit durch die Frauen wieder ausgegraben, die dann das Fleisch verzehrten. Diese Praxis entstand nach Harris erst in den 1920er-Jahren, früher waren lediglich die Knochen nach einer gewissen Zeit wieder ausgegraben worden. In den 1950er-Jahren erkrankten vor allem Frauen dieses Stammes an einer bis dahin unbekannten Krankheit namens Kuru, die wahrscheinlich durch den Verzehr infizierter menschlicher Gehirne ausgelöst wurde. Harris erklärt die Einführung des Kannibalismus bei den Fore damit, dass die Frauen und Kinder des Stammes deutlich weniger Fleisch größerer Tiere zugeteilt bekamen als die Männer und sich überwiegend von Pflanzen, Fröschen und Insekten ernähren mussten. Sie litten daher unter Proteinmangel, so dass der Kannibalismus als Ausweg gedient habe.[69]
Marvin Harris geht davon aus, dass in den meisten Kulturen Menschenfleisch nur im Zusammenhang mit Kriegskannibalismus verzehrt wurde. Es sei für sie sinnvoller gewesen, Gefangene zu töten und zu essen als diese als Sklaven zu halten. „Die Tupinamba, Huronen oder Irokesen zogen nicht in den Krieg, um Menschenfleisch zu erbeuten; sie erbeuteten Menschenfleisch als ein Abfallprodukt ihrer Kriegszüge. […] Was sie taten, war ein ernährungspraktisch vernünftiges Vorgehen, wenn sie nicht eine tadellose Quelle tierischer Nahrung ungenutzt lassen wollten […]“.[70] Die Tabuisierung des Kannibalismus habe nicht aus ethischen und moralischen Gründen eingesetzt, sondern sei ebenfalls Folge einer Kosten-Nutzen-Rechnung, da größere staatlich organisierte Gesellschaften andere Interessen hätten als kleine Gruppen; sie benötigten zum einen mehr Arbeitskräfte und zum anderen Steuerzahler. Außerdem nahm die Haltung von Nutztieren zu. So folgert Harris, „[…] daß Menschenfleisch aus den prinzipiell gleichen Gründen seine Eignung zum Verzehr einbüßte wie das Rindfleisch bei den Brahmanen und Hundefleisch bei den Amerikanern: die Bilanz zwischen Kosten und Nutzen sprach dagegen.“[71]
Der Opferkult der Azteken
Der Kannibalismus der Azteken scheint Harris' Theorie zu widersprechen, denn bei ihnen wurde er nicht parallel zur Entwicklung des Staatswesens aufgegeben. Bei den Azteken gehörten massenhafte rituelle Menschenopfer zu ihrem Opferkult, und zwar in erheblichem Ausmaß. Umfangreiche Knochenfunde und gebaute Schädeltürme belegen diese jahrhundertelang geübte Praxis, die erstmals von Hernando Cortez 1519 beschrieben wurde. Die Opferungen fanden in Tenochtitlán auf der obersten Plattform von Pyramiden im Tempelbezirk statt. Den Opfern wurde dort von mehreren Priestern das Herz aus dem Brustkorb geschnitten, das jeweils einer Gottheit geopfert wurde. Der Kopf wurde für die Schädelgerüste abgetrennt, der übrige Körper ging an den Besitzer, der das Opfer bei einem Kriegszug gefangen genommen hatte. Die Leiche wurde dann als Eintopf bei einem Festmahl verzehrt. Schätzungen der jährlichen Opferzahlen reichen von 15.000 bis 250.000. Geopfert wurden Frauen und Männer, selten Kinder. [72]
Dass die Azteken potenzielle Sklaven und Steuerzahler aufaßen, erklärt Harris damit, dass sie nicht über eine nennenswerte Viehzucht verfügten; ihre einzigen Haustiere waren Truthähne und Hunde. Er geht davon aus, dass dies der Oberschicht als Fleischquelle nicht ausreichte. Dennoch lehnt er die These von Michael Harner ab, dass der Kannibalismus eine Folge des Haustiermangels war und der Opferkult gewissermaßen „Fleischbeschaffung auf aztekische Weise“ gewesen sei; in diesem Fall wären seiner Ansicht nach die Kosten für die Beutezüge höher gewesen als der Nutzen.[73] „Die Knappheit an tierischer Nahrung bei den Azteken zwang diese nicht notwendig zum Verzehr von Menschenfleisch; sie machte einfach […] die politischen Vorteile einer Unterdrückung des Kannibalismus weniger zwingend.“[74]
Harris bezeichnet den Kannibalismus der Azteken als Kriegskannibalismus, nach Harner ist es profaner Kannibalismus, im Zusammenhang mit dem religiösen Kult ist es jedoch auch ritueller Kannibalismus. Harris erwähnt nicht, dass im Zentrum des aztekischen Kultes die Sonne stand, die nach der mythischen Überlieferung aus dem Fleisch und Blut geopferter Götter entstanden ist. Das Leben im Jenseits galt als wichtiger als das irdische Dasein, Zugang zum Paradies hatten nach ihrem Glauben Geopferte und in der Schlacht gefallene Krieger. Beide Todesarten galten auf einer Skala mit 13 Stufen als die höchsten. Der Lauf der Sonne konnte nach aztekischem Glauben nur durch das Opfern von menschlichem Blut gesichert werden, da sich zuvor die Götter für die Existenz der Welt geopfert hatten.[75] Die Fortsetzung des Kannibalismus bei den Azteken lässt sich folglich auch damit erklären, dass sie ihren Kult nicht mit der Etablierung eines Staatswesens aufgegeben haben.
Literatur
- Eva Barlösius: Soziologie des Essens, Verlag Juventa, München 1999, ISBN 3-7799-1464-6
- Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung, Berlin 1985 (Originaltitel: Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, 1966), ISBN 3-518-28312-X
- Marvin Harris: Wohlgeschmack und Widerwillen. Die Rätsel der Nahrungstabus (Originaltitel Good to eat. Riddles of Food and Culture, 1985), Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1988, ISBN 3-608-93123-6
- Edmund Leach: Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge, Verlag Suhrkamp 1977, ISBN 3-518-27812-6
- Stephen Mennell: Die Kultivierung des Appetits. Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute (Originaltitel: All Manners of Food), Frankfurt/Main 1988
- Monika Setzwein: Zur Soziologie des Essens. Tabu, Verbot, Meidung, Verlag Leske + Budrich, 1997, ISBN 3-8100-1797-3
- Frederick J. Simoons: Eat Not This Flesh: Food Avoidances from Prehistory to the Present, Wisconsin Press 1994, 2nd ed., ISBN 0-299-14254-X
Weblinks
- Rolf Degen: Nicht nur Verdorbenes macht Angst, in: Tabula 02/2005
- Friedemann Schmoll: Der Mensch ist, was er nicht isst. Über das Rätsel der Nahrungstabus, in: Science Lunch, Okt. 2004
- Daniel M.T. Fessler/Carlos David Navarrete: Meat is Good to Taboo, in Journal of Cognition and Culture, 2003 (pdf)
- Nicolai Schirawski: Sehr verehrte Kuh, in: P.M. Magazin 09/2002
- Alexander Rabl: Tabuzone Teller
Anmerkungen
- ↑ vgl. Rolf Degen: Nicht nur Verdorbenes macht Angst, in: Tabula 02/2005
- ↑ Eva Barlösius, Soziologie des Essens, S. 45
- ↑ Daniel Fessler/Carlos Navarrete, Meat is Good to Taboo, S. 4
- ↑ Monika Setzwein, Zur Soziologie des Essens, S. 109 f.
- ↑ Eva Barlösius, Soziologie des Essens, S. 104
- ↑ Marvin Harris, Wohlgechmack und Widerwillen, S. 47
- ↑ zitiert nach Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen, S. 45
- ↑ Nicolai Schirawski, Sehr verehrte Kuh, in: P.M.Magazin 09/2002
- ↑ Marvin Harris, S. 61
- ↑ Marvin Harris, S. 48 ff.
- ↑ Marvin Harris, S. 53
- ↑ Marvin Harris, S. 60 ff.
- ↑ Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen, S. 67 ff.
- ↑ Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen, S. 72 ff.
- ↑ Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen, S. 82 f.
- ↑ Eva Barlösius, Soziologie des Essens, S. 102
- ↑ Eva Barlösius, Soziologie des Essens, S. 104
- ↑ Monika Setzwein, Zur Soziologie des Essens, S. 103 f.
- ↑ englischer Wikipedia-Artikel Horse meat
- ↑ Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen, S. 89 ff.
- ↑ zitiert nach Marvin Harris, S. 98
- ↑ Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen, S. 98 ff.
- ↑ Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen, S. 105 ff.
- ↑ vgl. Niels Kayser Nielsen, Food, Hunting, and Taboo, S.66
- ↑ Alois Payer: Die jüdischen Speisegesetze
- ↑ Manfred Goetz: Schächten von Opfer- und Nutztieren
- ↑ John Feffer: The Politics of Dog, 2002
- ↑ Markus Rohner: Nicht nur Asiaten lieben Hundefleisch und Artikel über Hundefleischverzehr in der Schweiz
- ↑ Erhard Oeser, Hund und Mensch: die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2004, S. 143 ff.
- ↑ MDR: Prinz Henrik isst gern Hundefleisch
- ↑ ZEIT-Artikel über Hundefleischverzehr in Korea (2002)
- ↑ Marvin Harris, S. 193
- ↑ Marvin Harris, S. 194
- ↑ vgl. John Feffer: The Politics of Dog und ZEIT-Artikel über Hundefleischverzehr in Korea
- ↑ ZEIT-Artikel über Hundefleischverzehr in Korea
- ↑ NDR-Bericht über Hundefleischverzehr in China (2002)
- ↑ Markus Rohner: Nicht nur Asiaten lieben Hundefleisch und Artikel über Hundefleischverzehr in der Schweiz
- ↑ Oeconomische Encyclopädie von Krünitz, Artikel Hund
- ↑ a b c Gertrud Blaschitz: Der Mensch und seine Beziehung zu seinen Haustieren Hund und Katze
- ↑ Oeconomische Encyclopädie von Krünitz, Artikel Hund
- ↑ vgl. Stephen Mennell, Die Kultivierung des Appetits, S. 386 ff.
- ↑ a b c d e Insekten essen – Ekel oder Genuss? (2003)
- ↑ Marvin Harris, S. 172 f.
- ↑ Marvin Harris, S. 167
- ↑ Marvin Harris, S. 185
- ↑ Marvin Harris, S. 186 f.
- ↑ Marvin Harris, S. 182 f.
- ↑ Monika Setzwein, Zur Soziologie des Essens, S. 137 f.
- ↑ Monika Setzwein, Zur Soziologie des Essens, S. 79
- ↑ Klaus Eder, Die Vergesellschaftung der Natur, Frankfurt/M. 1988, S. 111
- ↑ a b c Friedemann Schmoll: Der Mensch ist, was er nicht isst, in: Science Lunch, Okt. 2004
- ↑ WWF-Infos (2006)
- ↑ mare-Artikel
- ↑ Pro Wildlife (2002)
- ↑ Hiddenmuseum: Biber
- ↑ Andreas Grossweiler: Hirnpudding und Eichhörnchenpfeffer
- ↑ Stephen Mennell: Die Kultivierung des Appetits. Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute, S. 392
- ↑ Stephen Mennell, S. 392
- ↑ Pressemitteilung des Fleischerverbands (2003)
- ↑ a b Stephen Mennell: Die Kultivierung des Appetits
- ↑ Stephen Mennell, S. 395
- ↑ a b Planet Wissen zu Milchunverträglichkeit
- ↑ Marvin Harris, S. 146
- ↑ Marvin Harris, S. 159 ff.
- ↑ a b c China today: Der heiß umkämpfte Markt für Milchprodukte (2005)
- ↑ Marvin Harris, S. 216
- ↑ Kannibalismus in der Frühzeit der Menschen
- ↑ Susanne Wetzel: Kannibalismus
- ↑ Marvin Harris, S. 220 f.
- ↑ Marvin Harris, S. 235
- ↑ Marvin Harris, S. 241
- ↑ Marvin Harris, S. 247 ff.
- ↑ Marvin Harris, S. 254
- ↑ Marvin Harris, S. 256
- ↑ Infos zur Kultur der Azteken