Nordseegermanische Sprachen

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Ungefähre Verbreitung germanischer Dialektgruppen um Christi Geburt
  • Nordgermanisch
  • Nordseegermanisch oder Ingwäonisch
  • Weser-Rhein-germanische Sprachen oder Istväonisch
  • Elbgermanisch oder Herminonisch
  • Ostgermanisch oder Gotisch
  • Als nordseegermanische Sprachen (oder ingwäonische Sprachen) werden in der Sprachwissenschaft verschiedene germanische Varietäten bezeichnet, die um die Mitte des ersten Jahrhunderts im Nordseegebiet verbreitet waren und gemeinsame Merkmale aufwiesen. Als Abkömmlinge dieser Varietäten gelten das Friesische, das Niedersächsische und das Altenglische bzw. Englische, die dementsprechend auch heute häufig noch als Nordseegermanisch klassifiziert werden. Auch das Niederfränkische bzw. Niederländische wird manchmal hierzu gerechnet. Typische nordseegermanische Merkmale, sogenannte „Ingwäonismen“, sind vor allem im Friesischen und Englischen zu finden. Das Niedersächsische hat durch die frühe Anbindung an das Fränkische bzw. Hochdeutsche viele nordseegermanische Charakteristika eingebüßt.[1]

    Nordseegermanisch oder Ingwäonisch?

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    Die Adjektive nordseegermanisch und ingwäonisch werden heute weitgehend synonym verwendet. Weitere Synonyme für diese Sprachengruppe sind nordwestgermanisch, küstenwestgermanisch und küstendeutsch.[2] Die Bezeichnung nordwestgermanisch ist jedoch mehrdeutig, da sie sich auch auf die Einheit von Nordgermanisch und Westgermanisch beziehen kann oder aber auf die Einheit von Nordgermanisch und Nordseegermanisch.[3]

    Diese Bezeichnung findet sich bei dem römischen Schriftsteller Tacitus. Dieser hat in seiner Schrift De origine et situ germanorum von drei Kulturkreisen der Germanen berichtet, von denen die Ingaevonen am nächsten dem Ozean wohnten.[4] Schon zuvor berichtete der römische Schriftsteller Plinius in seiner Naturalis historia von den Inguaeones bzw. Ingvaeones[5].

    Der Begriff ist in mehreren Schreibweisen verbreitet. Neben der seltenen Fassung ingaevonisch kommen auch ingävonisch, ingväonisch und die an die moderne Schreibweise angepasste ingwäonisch und selten ingäwonisch vor.

    In Anlehnung an die nach dieser Stammeseinteilung an der Nordsee wohnenden Ingaevonen, zu denen unter anderem die Friesen, die Sachsen und die Angeln gerechnet werden, wählte man den Terminus Ingwäonisch als Etikett für die sprachlichen Merkmale, denen der Begriff Anglo-Friesisch nicht mehr gerecht wurde. Der Begriff wird allerdings vielfach kritisiert, da er als direkter Bezug zur unbekannten Sprache der taciteischen Ingaevonen verstanden werden kann.[6]

    Nordseegermanisch

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    In der Sprachwissenschaft gibt es die Tendenz, Begriffe, die auf Stämme verweisen, durch solche zu ersetzen, die das nicht tun. Im Falle des Begriffs ingwäonisch ist der Ausdruck nordseegermanisch ein solcher Ersatz. Doch auch diese geografische Bezeichnung ist nicht unumstritten, da nordseegermanische Merkmale auch tief im niederländischen und niederdeutschen Binnenland vorkommen. Zudem gilt der Terminus nordseegermanisch im Gegensatz zu ingwäonisch als sperrig und ist nur eingeschränkt brauchbar für weitere abgeleitete Termini, z. B. „Nordseegermanismen“.[6]

    Nordseegermanische Sprachen

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    Westgermanische Sprachen um 580 n. Chr.: nordseegermanische Dialekte in Gelb und Orange (ohne Altnordisch).

    Die Diskussion um das Nordseegermanische/Ingwäonische dauert in der Wissenschaft nach wie vor an. So wurde und wird das Nordseegermanische unterschiedlich beurteilt.

    Der Begriff ingwäonisch kann dabei nach wie vor dasselbe bedeuten wie der Begriff anglo-friesisch. In der Ingwäonen-Theorie von Ferdinand Wrede haben die beiden Begriffe dieselbe Bedeutung.

    Allerdings wird ingwäonisch in der Sprachwissenschaft heute meist mit nordseegermanisch gleichgesetzt. Der Begriff nordseegermanisch stammt aus der Theorie zur Gliederung der Germanen von Friedrich Maurer und umfasst nicht nur das Englische und Friesische, sondern auch das Niederdeutsche.

    Neben dem Altenglischen und dem Altfriesischen gehört auch das Altsächsische zu den nordseegermanischen Sprachen. Allerdings ist das Niederdeutsche unter den Einfluss südlicher Dialekte geraten: erst des Fränkischen nach der Unterwerfung der Sachsen durch Karl den Großen, dann unter hochdeutschen Einfluss. Das Niederdeutsche hat seinen nordseegermanischen Charakter – bis auf einige Relikte (Ingwäonismen) – verloren.[7]

    Das Niederländische wird unterschiedlich beurteilt, meist wird es nicht dem Nordseegermanischen zugeordnet, da es auf fränkischen Dialekten fuße. Niederländisch hat aber ein nordseegermanisches Substrat. Diese nordseegermanischen Einflüsse werden teils als friesisches Substrat angesehen, teils nicht dem Friesischen zugeordnet.[8]

    Standpunkte zum Thema „Ingwäonen“

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    Die Diskussion über die nordseegermanischen Sprachen wird dadurch erschwert, dass mit den Ingwäonen und ihren Sprachen recht unterschiedliche Theorien verbunden werden.

    Zum Beispiel stellte der deutsche Sprachwissenschaftler Ferdinand Wrede 1924 eine Theorie auf, nach welcher der niederdeutsche und der schwäbisch-alemannische Raum eine Zeit lang einen gemeinsamen ingwäonischen Sprachraum gebildet haben, mit gemeinsamen sprachlichen Eigenschaften. Nach Wredes Theorie seien „Westgermanisch“ und „Anglo-Friesisch“ (Ingwäonisch) ursprünglich dasselbe gewesen. Nach dieser Theorie haben die Goten auf ihren Wanderungen einen Keil zwischen die beiden Gebiete getrieben und sie voneinander getrennt. Deutsch sei gotisiertes „Westgermanisch“ (Ingwäonisch). Diese Theorie hat sich allerdings als fehlerhaft erwiesen.[9]

    Ein weiterer Vertreter von radikalen Ingwäonen-Theorien war der niederländische Sprachwissenschaftler Klaas Heeroma. Seit 1935 beschäftigte er sich immer wieder mit dem Ingwäonischen und rief mit seinen Theorien häufig Widerspruch hervor.[10]

    Der niederländische Sprachwissenschaftler Moritz Schönfeld verwendet den Begriff ingväonisch hingegen sehr vorsichtig. Für ihn ist dieser Begriff nur ein flexibler dialektologischer Begriff für bewegliche Isoglossenkomplexe, ohne Bezug auf prähistorische Stämme oder Einheitssprachen. Für ihn ist der Begriff ein Etikett für sprachliche Erscheinungen an der Küste, ohne genaue Abgrenzung in Raum und Zeit.[11]

    Merkmale der nordseegermanischen Sprachen

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    Sprachliche Eigenarten der nordseegermanischen Sprachen werden meist Ingwäonismen genannt. Dieser Terminus hat sich breit etabliert, auch wenn man sonst häufig den Begriff nordseegermanisch verwendet.[12] Wie allgemein zum Nordseegermanischen gehen auch die Forschungsmeinungen zu den Ingwäonismen auseinander. Es besteht keine Einigkeit darüber, welche Merkmale zu den Ingwäonismen gezählt werden. Im Folgenden werden ohne Anspruch auf Vollständigkeit und allgemeine Gültigkeit einige Beispiele genannt:

    • Nasal-Spiranten-Gesetz: Ausfall des Nasals vor Frikativ, dabei Ersatzdehnung:
      • germanisch *samftō, -ijaz ‚sanft‘ wird zu westfries. sêft, engl. soft, niederdt. sacht, ndl. zacht
      • germanisch *gans ‚Gans‘ wird zu westfries. goes, guos, engl. goose, niederdt. Goos
    • Wegfall des t in der 3. Person Singular von sein: germanisch *ist(i) wird zu altengl. is, altsächsisch is (neben ist), niederdeutsch is
    • Wegfall des r im Personalpronomen der 1. Person Mehrzahl: germanisch *wīz ‚wir‘ wird zu altsächs. wī, wē, altndl., altfries. wī, altengl. (gegenüber limb. veer, altnord. vér, got. weis), niederdeutsch wi
    • Anderer Wortstamm bei Personalpronomen:
      • deutsch „er“: niederdt. he, ndl. hij, engl. he, westfries. hy, saterfries. hie, nordfries. hi
      • deutsch „ihr“: niederdt. ji, mndl. ghi, engl. you, westfries. jim, saterfries. jie, nordfries. jam
    • 3-Kasus-System ohne Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ
    • Futurbildung mit dem Hilfsverb schallen (sallen), shall: fries. ik schall (sall) – engl. I shall (deutsch ‚ich werde‘)
    • Assibilierung des Plosivs k vor palatalen Vokalen zu einem Frikativ:
      • deutsch „Käse“: engl. cheese, westfries. tsiis, saterfries. sies, nordfries. sees
      • deutsch „Kirche“: engl. church, westfries. tsjerke, saterfries. seerke, nordfries. schörk, sark
      • Im Niederdeutschen (bes. Groningisch-Ostfriesisch) bis auf Reliktwörter mit Zetaismus nahezu verschwunden: Sever neben Kever ‚Käfer‘
    • Palatalisierung des germanischen a: germanisch *dagaz ‚Tag‘ wird zu altengl. dæg, niederdeutsch dag, altfries. dei; lateinisch (via) strata ‚Straße‘ wird zu altengl. strǣt, altfriesisch strēte, niederdeutsch Straat
    • Bildung des Partizips Perfekt ohne das Präfix ge-: niederdt. daan, engl. done, westfries. dien, saterfries. däin, nordfries. dänj (deutsch ‚getan‘)
    • r-Metathese: engl. burn, westfries. baarne (neben brâne), nordfries. baarnwin ‚Brandwunde‘ (neben braan ‚brennen‘) niederdt. Barnsteen ‚Bernstein‘ (neben brennen ‚brennen‘)
    • Auch der verbale Einheitsplural (niederdt. wi/ji/se maakt, nordfries. we/jam/ja mååge – deutsch „wir machen/ihr macht/sie machen“) wird häufig zu den Ingwäonismen gezählt.

    Einzelnachweise

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    1. Hans Frede Nielsen: Frisian and the Grouping of the Older Germanic Languages. In: Horst Haider Munske (Hrsg.): Handbuch des Friesischen. = Handbook of Frisian Studies. Niemeyer, Tübingen 2001, ISBN 3-484-73048-X, S. 81–104.
    2. Adolphe van Loey: Schönfeld's Historische Grammatica van het Nederlands. Kankleer, vormleer, woordvorming. 8. Druck. Thieme, Zutphen, 1970, ISBN 90-03-21170-1, Kap. 4, S. XXV.
    3. Steffen Krogh: Die Stellung des Altsächsischen im Rahmen der germanischen Sprachen (=Studien zum Althochdeutschen. Bd. 29). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996, ISBN 3-525-20344-6, S. 84–85.
    4. Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud illos memoriae et annalium genus est, Tuistonem deum terra editum. Ei filium Mannum, originem gentis conditoremque, Manno tris filios adsignant, e quorum nominibus proximi Oceano Ingaevones, medii Herminones, ceteri Istaevones vocentur. – „Sie feiern mit alten Gesängen ihre nach Erinnerung und Überlieferung gemeinsame Abstammung, dass die Erde den Gott Tuisto hervorgebracht habe. Dessen Sohn sei Mannus, Ursprung und Gründer des Geschlechts (der Germanen). Dem Mannus schreiben sie drei Söhne zu, nach deren Namen die dem Ozean am nächsten gelegenen Ingaevonen, die mittleren Hermionen und die übrigen Istaevonen genannt wurden.“
    5. Plinius, Historia Naturalis, IV, 27, 28.
    6. a b Klaas Heeroma: Zur Problematik des Ingwäonischen. In: Frühmittelalterliche Studien. Bd. 4, 1970, S. 231–243, doi:10.1515/9783110242041.231.
    7. Claus Jürgen Hutterer: Die germanischen Sprachen. Ihre Geschichte in Grundzügen. 2. deutsche Auflage. Drei-Lilien-Verlag, Wiesbaden 1987, ISBN 3-922383-52-1, Kap. IV.3.61, S. 243 sowie IV.4.52, S. 296.
    8. Coenraad B. van Haeringen: Netherlandic Language Research. 2nd edition. Brill, Leiden 1960, S. 102.
    9. Claus Jürgen Hutterer: Die germanischen Sprachen. Ihre Geschichte in Grundzügen. 2. deutsche Auflage. Drei-Lilien-Verlag, Wiesbaden 1987, ISBN 3-922383-52-1, Kap. IV.3.3; Adolf Bach: Geschichte der deutschen Sprache. 9., durchgesehene Auflage. Quelle & Meyer, Heidelberg 1970, S. 88, § 50.
    10. Coenraad B. van Haeringen: Netherlandic Language Research. 2nd edition. Brill, Leiden, 1960, S. 102–104.
    11. Adolphe van Loey: Schönfeld's Historische Grammatica van het Nederlands. Kankleer, vormleer, woordvorming. 8. Druck. Thieme, Zutphen, 1970, ISBN 90-03-21170-1, Kap. IX, S. XXXIII.
    12. Adolphe van Loey: Schönfeld’s Historische Grammatica van het Nederlands. Kankleer, vormleer, woordvorming. 8. Druck. Thieme, Zutphen, 1970, ISBN 90-03-21170-1, Kap. 9, S. XXXIII.